Die Geschichte der Thüringer Verfassungsgerichtsbarkeit
Bis zum Jahr 1918
Die Verfassungstradition Thüringens reicht bis in die Anfänge des Konstitutionalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Sieben Länder der im Deutschen Bund zusammengeschlossenen zwölf thüringischen Staaten folgten der Deutschen Bundesakte von 1815 und errichteten eine sogenannte Landständische Verfassung. Zu den typischen frühkonstitutionellen thüringischen Landesverfassungen zählt das sogenannte Grundgesetz einer Landständischen Verfassung für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, das bis zur Revolution im Jahr 1848 galt. Es beschränkte sich allerdings im Wesentlichen auf die Regelung der Rechtsverhältnisse des Landtages. Ein Grundrechtskatalog fehlte.
Die sogenannten Märzforderungen der Revolution von 1848 zielten auf fortschrittlichere Verfassungen. Sie beeinflussten wie die Verfassungsberatungen der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt die Verfassungsreformen in Thüringen. Die von der Nationalversammlung verkündeten sogenannten Grundrechte des deutschen Volkes wurden teilweise wörtlich in die Landesverfassungen übernommen. Verankert wurden auch ein Gesetzesinitiativrecht des Parlaments sowie die Ministerverantwortlichkeit.
Die Auflösung des Deutschen Bundes und der Beitritt der thüringischen Staaten zu dem 1866 gegründeten Norddeutschen Bund führte mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 zu Kompetenzverlusten der Länder. Mit der Reichsverfassung von 1871 setzte sich der unitarische Prozess fort. Die bundesrechtlich zunächst nur ansatzweise gewährleisteten Freiheitsrechte wurden aber stetig erweitert.
Nach 1918
In der Folge der Novemberrevolution 1918 wurden die ehemaligen Thüringer Fürstentümer zu Freistaaten. Sie schlossen einen Gemeinschaftsvertrag zur Bildung eines Landes Thüringen, gaben sich 1920 eine Vorläufige Verfassung und begründeten mit der ersten Thüringer Verfassung vom 11. März 1921 eine repräsentative Demokratie und zugleich die Freistaatlichkeit Thüringens.
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, der Auflösung des Reichstages und der Landtage und der Übertragung der Hoheitsrechte der Länder auf das Reich in den Jahren 1933 und 1934 endete auch die Eigenständigkeit des Landes Thüringen.
Nach 1945
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Thüringen aufgrund der Beschlüsse von Jalta Teil der sowjetischen Besatzungszone. Die sowjetische Militäradministration errichtete im Jahr 1945 fünf Länder, darunter auch das Land Thüringen. Im Jahr 1946 verabschiedete der erste Thüringer Landtag die Verfassung des Landes Thüringen, die eine Reihe von Grundrechten gewährleistete. Die Verfassung galt bis zur Beseitigung der Landesstrukturen in der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1952. Als Überbleibsel der Verfassungsgerichtsbarkeit erscheint Art. 66 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949. Die Vorschrift sah die Bildung eines Verfassungsausschusses der Volkskammer vor. Dieser war zuständig zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen der Republik sowie der Vereinbarkeit von Landesgesetzen mit den Gesetzen der Republik und zur Prüfung von Verfassungsstreitigkeiten zwischen der Republik und den Ländern. Über das Gutachten des Verfassungsausschusses entschied die Volkskammer.
Nach 1989
Es war ein Hauptanliegen der friedlichen Revolution des Herbstes 1989, nach dem Beispiel der Bundesrepublik Deutschland auch in der Deutschen Demokratischen Republik eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit zu schaffen. Bereits der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches vom 4. April 1990 sah daher die Errichtung eines Verfassungsgerichts mit umfassender Zuständigkeit vor. Auch die mit der Bildung der fünf neuen Länder durch das Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990 einhergegangenen ostdeutschen Verfassungsvorhaben sahen von Anfang an eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit vor, die sich am Grundgesetz und am Bundesverfassungsgerichtsgesetz orientierte.
Die Neuerrichtung des Landes Thüringen am 3. Oktober 1990 machte die Normierung einer vorläufigen Ordnung bis zur Verabschiedung einer Landesverfassung notwendig. Die Vorläufige Landessatzung für das Land Thüringen vom 7. November 1990 (GVBl. S. 1) beschränkte sich als Interimsverfassung auf die Regelung der Staatsgrundlagen. Die Einrichtung eines Landesverfassungsgerichts blieb der eigentlichen Landesverfassung vorbehalten.
Die verschiedenen in das Verfassungsgebungsverfahren eingebrachten Entwürfe einer Thüringer Verfassung sahen von Anfang an eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit vor. Vor dem Hintergrund zweier Diktaturen schuf der Thüringer Verfassungsgeber wie alle neuen Länder und im Gegensatz zu einer Reihe der bisherigen Länder eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese sollte nicht im Sinne eines Staatsgerichtshofs auf die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Staatsorganen oder die Kontrolle von Landesgesetzen beschränkt sein. Vielmehr sollte sich der Bürger gegen jeden hoheitlichen Akt zur Wehr setzen können, mithin auch gegen Gerichtsurteile.
Die Errichtung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs
Die Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVBl S. 625) sieht in ihrem Art. 79 die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofs vor. Art. 79 enthält Regelungen zu Stellung und Zusammensetzung des Gerichtshofs und Art. 80 Regelungen über seine Zuständigkeiten. Die nähere Ausgestaltung des Verfahrens und der Organisation wird dem Gesetzgeber überlassen.
Mit dem Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof vom 28. Juni 1994 (GVBl S. 781) bestimmte der Thüringer Landtag den Sitz des Verfassungsgerichtshofs in Weimar und regelte das Verfahren beim Verfassungsgerichtshof.
Der Gerichtshof nahm am 13. September 1995 seine Arbeit auf.
(Literaturhinweise: Joachim Linck, in Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, Kommentar, 1993, Einleitung; Ulrich Rommelfanger, Die Verfassung des Freistaats Thüringen des Jahres 1993, ThürVBl. 1993, 145, 173)